Europäische Kulturhauptstadt 2024 ist das Salzkammergut in Österreich, der Geburtsort von Thomas “Tom” Neuwirth alias Conchita Wurst – hier erinnert er sich an sein dortiges Aufwachsen und wie er seinen Frieden mit der Gegend machte.
Wenn mich jemand aus dem Ausland fragt, wo ich herkomme, dann sage ich immer: "Do you know the movie ‘The Sound of Music’? That’s where I’m from." Das Salzkammergut ist eine Landschaft wie aus dem Bilderbuch. So österreichisch, wie’s kaum mehr geht. Ich bin in Bad Mitterndorf aufgewachsen, einem 3000-Seelen-Ort in der Steiermark. Meine Eltern haben dort eine Gastwirtschaft. Wer so aufwächst, wird vom ganzen Dorf großgezogen, aber auch von allen bewertet und beurteilt. Zum Fasching haben sie immer einen Ball veranstaltet: Frauen mussten sich wie Männer kleiden, Männer wie Frauen. Mein Vater trug ein goldbesticktes Kleid. Wahrscheinlich war er die erste Dragqueen, die ich gesehen habe.
Bevor ich verstand, was Homosexualität ist, hatte ich ein tolles Leben dort. Es war alles so schön harmlos und langweilig, eine Idylle wie aus dem Heimatfilm. Erst als Teenager fingen die Probleme an. "Geh nicht so", "Sprich nicht so" – das bekommt man als queeres Kind auf dem Land zu hören. Es war keine einfache Zeit. Auch meine Eltern wussten nicht mit der Situation umzugehen. Nur meine Oma aus Oberösterreich bemerkte nonchalant: "Des wird einmal a Handtaschenschwinger." Die Leute im Ort waren pikiert. "Is’ eh super", konterte sie. Weil bei uns immer Leute ein- und ausgingen, war nicht einmal mein Zuhause ein Safe Space. Irgendwann habe ich mich auf den Dachboden verkrümelt und dort gezeichnet, gesungen, getanzt und genäht. Mit 14 ging ich nach Graz auf die Modeschule, drei Stunden von meiner Heimat entfernt. Mit 15 bekam ich meine erste eigene Wohnung; ein Befreiungsschlag.
Als ich hörte, dass das Salzkammergut Europäische Kulturhauptstadt 2024 wird, dachte ich, einen langweiligeren Ort hätten sie sich wohl nicht aussuchen können. Ich stand meiner Heimat lange ablehnend gegenüber, hatte viele negative Erinnerungen. Als die künstlerische Leiterin Elisabeth Schweeger mich fragte, ob ich im Kulturhauptstadt-Komitee sitzen möchte, sagte ich trotzdem Ja. Auch, um die zu repräsentieren, denen es wie mir geht. Es ist das erste Mal, dass die Kulturhauptstadt nicht nur einen Ort, sondern eine ganze Region umfasst. Im Zuge der Vorbereitungen war ich oft dort.
Ich hatte mich lange von meiner alten Heimat distanziert, weil ich dachte, da ist nix los. Und jetzt komme ich heim und verstehe auf einmal, was hier so besonders ist. Viele glauben, das Salzkammergut sei verschlafen und verträumt, was in Teilen auch stimmt. Die Seen, die Berge, die Postkartenmotive geben dir so viel Kraft, sind so wunderschön und ruhig, dass ich zum ersten Mal verstand, warum man sich dort niederlässt, um zu schreiben, zu dichten und zu malen. Geschichtlich gesehen war hier die Avantgarde zu Hause. Bis die Nazis kamen und sich hier breitgemacht haben. (Im Salzkammergut wurde ein KZ errichtet, in Bad Ischl und Hallstatt versteckten sich in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs prominente Nazigrößen, Anm. d. Red.) Ihre Anwesenheit hat alles überschattet, bis heute hängt dieser Teil der Geschichte schwer in den Tälern.
Kulturhauptstadt-Leiterin Elisabeth Schweeger hat ein Programm initiiert, dass sich auch intensiv mit dem dunklen Teil der Vergangenheit auseinandersetzt
Die historische Aufarbeitung macht einen großen Teil des Festivalprogramms aus. Man merkt, dass sich viele bis heute nicht wirklich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen wollen. Ich hoffe, dass das Programm sie dazu anregt, ihre Einstellung etwas zu überdenken. Im Stollen des ehemaligen Konzentrationslagers Ebensee hat die japanische Künstlerin Chiharu Shiota eine Installation aus roten Seilen und überlebensgroßen Kleidern gemacht, die an das Leid der Kriegsgefangenen erinnert. Der Raum mutet fast wie eine Kathedrale an; diese unglaubliche Schwere in Verbindung mit dieser Grandezza steht für mich sinnbildlich für die ganze Gegend. Das Programm, das Elisabeth Schweeger initiiert hat, ist bei Weitem nicht so handzahm wie das der früheren österreichischen Kulturhauptstädte Graz und Linz. Es ist Nahrung fürs Hirn und fürs Herz. Manchmal aber auch einfach nur gute Unterhaltung.
Besonders freue ich mich auf die Fête de la Musique, die im Juni in 23 Dörfern des Salzkammerguts Einzug hält. In einer Saline wird es ein gigantisches Konzert von Anton Bruckner geben, am Offensee ein Jodelkonzert. Übrigens eine Kunst, die von vielen nur belächelt wird, aber wenn man es richtig macht, geht es einem durch Mark und Bein. Es gibt viele queere und feministische Positionen. Und die erste Pride im Salzkammergut, am 15. Juni. Wie großartig ist das bitte? Es geht auch darum, Queerness im Salzkammergut zu "normalisieren" – was auch immer "normal" heißen mag. Mit Martin Zerza, einem meiner besten Freunde, zeige ich auch ein Varietéprogramm: "Frau Thomas und Herr Martin". Unsere musikalische Früherziehung bestand aus österreichischem Regionalradio, Schlager aus den Fünfzigerjahren. Jetzt kommen wir mit diesem Genre, das uns so geprägt hat und das wir lange fad und uncool fanden, auch zurück nach Hause.
Als Kind wollte ich immer berühmt sein. Wenn mich alle kennen und lieben, dachte ich, kann ich endlich sein, wer ich bin. Erst im Alter merkte ich, wie wertlos das Berühmtsein ist. Und doch hat es mein Leben grundlegend verändert. Ich wurde zum ersten Mal ernst genommen. Ich fühlte mich gesehen. Mittlerweile bin ich Ehrenbürger in meinem Dorf und Leute, die meinen Eltern früher geraten haben, mich zum Psychologen zu schicken, wollen plötzlich Selfies mit meiner Mutter machen. Bei der Eröffnungsfeier in der Kaiserstadt Bad Ischl im Januar bin ich in einem großen Reifrock aufgetreten, als wäre ich die Kaiserin von Österreich. Und plötzlich stand ich da oben auf der Bühne in meiner Heimat, so wie ich es mir als Kind immer erträumt hatte.
Vom Kulturhauptstadtjahr erhoffe ich mir, dass nicht nur Gäst:innen in die Region kommen, sondern auch die Einheimischen sich in den verschiedenen Programmpunkten wiederfinden. Ich habe gemerkt, dass im Salzkammergut meine Wurzeln liegen. Hier kommt alles her, was mich ausmacht. Mein Farb- und Formverständnis. Meine Liebe zu gewissen Silhouetten, zur Dramatik, zur Musik. Ich habe mich versöhnt mit dieser Gegend, mit den Leuten. Ich habe verstanden, dass sie auch nur das geben können, wie sie es gelernt haben. Viele sind emotional nicht in der Lage, andere Menschen anzunehmen, wie sie sind. Man muss sie abholen: Sobald man ihnen erklärt, wie man die Dinge sieht, und ins Gespräch mit ihnen kommt, blockt niemand ab. Es ist toll zu sehen, wenn bei den Leuten der Groschen fällt. Wenn sie erkennen: "Okay, ja, die Conchita ist eh wie wir." Das ist so simpel, so schön, und es gibt mir Hoffnung, dass wir als Gesellschaft funktionieren können, wenn wir aufeinander zugehen.
Dieser Artikel ist Teil unserer aktuellen VOGUE-Spezialausgabe für Österreich im Juni 2024. Seit Samstag, 25. Mai sind beide Ausgaben zum Preis von einer oder online – zum Beispiel hier – oder im Zeitschriftenhandel erhältlich.
Mehr Themen auf VOGUE.de:
Lesen Sie mehr
Verena Altenberger auf dem Cover des ersten VOGUE-Austria-Specials: “Über Feminismus habe ich mein Leben maßgeblich verbessert”
Von Alexandra Bondi de Antoni
Lesen Sie mehr
Das erste VOGUE Austria-Special ist da: "Wir hätten ehrlich gesagt ein doppelt so dickes Heft machen können"
Von Kerstin Weng
Lesen Sie mehr
Bilderbuch x Kenneth Ize: Diese Geschichte steckt hinter den fantastischen Bühnenoutfits der österreichischen Band
Von Alexandra Bondi de Antoni